Farben primär

Diese Seite enthält Skizzen, Beobachtungen und Textentwürfe zu einem Buchprojekt über die Rolle der Primärfarben in der westlichen Kunst- und Kulturgeschichte.  

8 - Was leisten die Farben in Grünewalds Auferstehungstafel?

2023.04.09


Grünewalds Auferstehungstafel, so eindrücklich und unmittelbar verständlich sie scheint, ist in ihrer Farbigkeit ein schwer zu ergründendes Rätsel. Das Gemälde ist die überzeugende Darstellung des größtmöglichen Wunders und als solche ihrerseits ein - malerisches Wunder. Der Begriff ‚Auferstehung‘ (anastasis), der allgemein verwendet wird, um das Ostereignis zu bezeichnen, ist zu bescheiden. Das, was die drei Frauen der Bibel aufgrund der Botschaft der Engel und der Indizien, des weggesprengten Steins und des leeren Grabs, am Ostermorgen als vorangegangenes Ereignis rekonstruiert haben, ist mehr als ein ‚Verlassen des Grabes himmelwärts‘; es ist im theologischen Sinn der Sieg Christi über den Tod, ein Wiederlebendigwerden nach drei Tagen. Über eine lange Tradition haben die bildenden Künstler das Ereignis der Auferstehung selbst, das in der Bibel nicht beschrieben wird, zu visualisieren versucht und dabei ein standardisiertes Inventar von ikonografischen Schemata entwickelt. 

 

Albrecht Dürer hat das Osterwunder in seiner Großen Passion von 1510 nach einer bereits existierenden Formel als Schweben des verklärten Auferstandenen über den schlafenden Wächtern und dem leeren, aber gleichwohl noch versiegelten Grab dargestellt. Ungewöhnlich ist dabei, wie er das hochschwebende Ende des Leichentuchs, das jetzt zum Gewand geworden ist, auf der linken Seite mit dem rahmenden Wolkenkringel parallelisiert. Grünewald kannte den Holzschnitt des Nürnberger Kollegen zweifellos. Grünewalds Soldat in der linken unteren Ecke ist ein Zitat daraus. Doch als Grünewald um 1512 das Auferstehungsbild für den Isenheimer Altar schuf, hat er sich nicht nur imitierend auf den etwa zwei Jahre früher publizierten Holzschnitt seines Nürnberger Kollegen bezogen. Er tat dies auch im Sinne einer Kritik. Erst Grünewald gelingt es, durch den raffinierten Einsatz der Farbe aus Dürers statischem Bild ein Ereignis zu machen. Wir können es, wenn wir das Gemälde in seiner gestalteten Struktur nachvollziehen, im eigentlichen Sinne nacherleben. Dabei kann Gründewald auf den in Italien entwickelten, von Dürer übernommenen theatralischen Einsatz von Wolkenkringeln und geflügelten Engelsköpfchen verzichten. Grünewalds Tafel zeigt gleichzeitig das Ergebnis (den Auferstandenen in seiner göttlichen Glorie) und den Weg, der ihn dazu geführt hat (den Sieg über den Tod), und zwar als Prozess. Christus, dem das Ereignis widerfährt, erscheint gleichzeitig als dessen Verursacher. Grünewald erreicht dies dadurch, dass er die goldgelbe Aureole, die das Haupt Christi umgibt, mit der Sonne, die in der Nacht leuchtet, identifiziert. Christus ist der Lichtspender und damit der Spender der sichtbaren Farbe. Entsprechend der Sequenz der Regenbogenfarben - aber in umgekehrter Reihenfolge - schattet sich die leuchtende Scheibe am Rande von Gelb über Rot nach Blau ab, um sich in der Schwärze des sternenbesetzten Himmels zu verlieren.

 

Entscheidend für das Verständnis des Gemäldes ist die Wahrnehmung der Farbigkeit als Phänomen der Projektion des göttlichen Lichts auf das weiße Leichentuch. Was für uns im Zeitalter von Kino und Beamer selbstverständlich ist, muss Grünewald - er war in Wasserbau und Astronomie bewandert - erst ‚entdeckt‘ und in seinen physikalischen Gesetzen studiert haben, vielleicht bei der Beobachtung des Farbenspiels, das farbige Glasfenster auf eine weißgetünchte Kirchenwand werfen. In der Projektion kommen immer zwei Farberscheinungen zusammen: die materielle Farbigkeit des Projektionsträgers, hier des weißen Leinengewands (der 'Leinwand'), und die als immateriell wahrgenommene Farbigkeit des Lichts.

 

Grünewald arbeitete bei der Lichtfarbe nach einem Farbkonzept, das drei Hauptfarben, blau + rot + gelb, entsprechend der Logik des Regenbogens anordnete. Dies geschieht in zweifacher Gliederung: im kategorialen Sinn, als Dreischritt, und gleichzeitig graduell, als Kontinuum. Im Auferstehungsbild wird die Farbfolge dadurch gedeutet, dass ihre Eckpunkte mit dem Gegensatz Tod vs. Leben parallelisiert werden. Im Nachvollzug der Entwicklung der Farblichtprojektion auf dem weißen Linnen lässt sich beobachten, wie das fahle, kalte Blau - dem Tod und dem irdischen Unten gleichgesetzt - sich sukzessive verdichtet, zum Blauviolett und schließlich über das Rot und die orangen Mitteltöne zum intensiven Gelb des lebenspendenden Gottes in der Form der leuchtenden Sonne wird. Der Weg vom Tod zum Leben wird bei Grünewald mithilfe der Farbgestaltung, die eine komplexe farbtheoretische Reflexion voraussetzt, zur Darstellung des größten Wunders der christlichen Religion.

 

An der Projektion des himmlischen Regenbogenlichts nehmen die weggesprengten Soldaten, die das Grab sichern sollten, nicht direkt teil. Im Kontrast zu den Primärfarben sind ihre Rüstungsteile in irdischen Tönen gehalten,  in gebrochenem Senfgelb und fahlem Grau.

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7 - Darf man über die Geschichte lachen?

2023.04.08


Gleichsam aus gegebenem Anlass habe ich heute einen Blick in das Frühwerk des genialen französischen Illustrators Gustave Doré (1832-1883) geworfen, die „Histoire dramatique, pittoresque et caricaturale de la sainte Russie“. Der Band wurde 1854, nach dem Ausbruch des Krimkriegs publiziert. Mit seinen 500, nach Entwürfen von Doré geschaffenen Holzstichen gilt er als ein wichtiger Vorläufer der heute in Frankreich beliebten Gattung der bande dessinée. Der 22-Jährige mixt darin alle Formen der Karikatur, die er schon früh mit seinen Beiträgen zu Pariser Zeitschriften wie dem „Journal pour rire“ erprobt hatte, zu einem großen Potpourri. Der Text ist geprägt von einem für die Zeit üblichen, etwas gar einfachen teleologischen Geschichtsbild und einem heute kaum mehr zu ertragenden Rassismus. Vieles jedoch, was darin gezeichnet und beschrieben ist, lässt sich tel quel auf die heutige Situation übertragen. Ein französischer Historiker hat gegenüber Dorés Werk einmal die Frage gestellt: „Peut-on rire de l’histoire“ - Darf man über die Geschichte lachen? Die Frage scheint mir nicht ganz adäquat gestellt. Was Doré ins Lächerliche zieht, ist nicht die Geschichte als solche, es sind die blutrünstigen Taten der Russland regierenden Potentaten, allen voran jene von Iwan dem Schrecklichen. Was im Band frappiert, sind weniger die überaus phantasievollen, kleinformatigen Darstellungen Dorés in der Tradition der Karikatur. Es gibt Seiten, bei denen es dem Zeichner gleichsam die Sprache verschlagen hat, wo er die Gattungsregeln vergisst und das Unsägliche mit neuen, noch unerprobten Mitteln zu gestalten versucht. So hat Doré rund um eine der Seiten des Buches einen feinen dünnen Rahmen gezogen und nach dem Druckprozess in diesen mit einem in Rot getränkten Schwamm oder Lappen eine riesige ‚Blutlache‘ einfügen lassen. Somit ist in jedem Exemplar der rote Fleck von unterschiedlicher Form, und häufig gibt es Spritzer über den Rahmen hinaus. Was wir sehen, ist trotz des Rahmens eigentlich kein Bild, zumindest keines im damaligen Sinn. Es ist ein ungestalter Fleck roter Farbe, der die Wirklichkeit, das vergossene Blut, direkt, über die besondere Art der Herstellung nachzuahmen versucht. Es ist Tachismus avant la lettre als Zeichen des Unfassbaren. Unterhalb der Seite steht in kleinen Lettern die Legende (hier übersetzt): „1582-1580. Im weiteren Verlauf der Regierung Iwans des Schrecklichen lässt sich nur dieser allgemeine Überblick der unzähligen verbrecherischen Vorkommnisse entwerfen, der jedoch alles Wesentliche enthüllt, wenn man dieses kunstvolle Gemälde in dem richtigen Abstand und mit halbgeschlossenen Augen betrachtet.“

 

Mit einem großen roten Fleck ist etwas später im Band eine weitere Seite nach dem gleichen Verfahren getränkt. Diesmal ist der Fleck über ein Bild, eine Karte Russland, gelegt. Darin sieht man zwölf Frauen und Männer, die mit Besen, Lappen und Bürsten bewehrt versuchen, das über das ganze große Reich vergossene Blut aufzuwischen, es verschwinden zu lassen. Die Legende lautet diesmal: „Iwans ehrenwerte und mächtigen Nachfolger hatten vollauf damit zu tun, um Russlands heiligen Boden von den Blutspuren einigermaßen zu säubern.“ Es ist, wie wir wissen, bis heute nicht gelungen. Im Gegenteil: Der russische Potentat ist in seinem imperialistischen Wahn zusammen mit seinen Helfershelfern eifrig damit beschäftigt, weiteres Blut zu vergießen.

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6 - Wie stellt sich der große Plagiator einen Kindergeburtstag vor?

2023.04.07

 

Immer neue Leistungen der Artificial Intelligence werden uns zum Staunen vorgeführt. Die größte amerikanische Zeitung hat diese Woche von einem neuen Wunder berichtet. Einer New Yorker start-up-Firma mit dem sprechenden Namen runway ist es gelungen, einen Algorithmus zu entwickeln, der fähig ist, Sprachbefehle, die man in den Computer eintippt, nicht wie seit kurzem möglich in unbewegte, sondern jetzt auch in bewegte Bilder, kleine Videos, umzusetzen. Dass dieser Schritt vom unbewegten zum bewegten Bild - in der Fotografie hat er ein halbes Jahrhundert gedauert - in der digitalen Welt nur eine Sache von wenigen Wochen oder Monaten sein würde - war zu erwarten. Das kleine sample, das uns die NYT präsentiert, ist ein vielleicht zwei Sekunden dauernder Einblick in einen Kindergeburtstag, an dem neben einer kauenden Kuh ein ähnlich gefleckter Hund als Gast teilnimmt. Ballone in Rosarot, Hellblau und Hellgelb, den üblichen kindlich aufgehellten Farbtönen, schweben an der Decke. Kerzen flackern auf dem Tisch.

 

Mich frappiert die gattungsmäßige Nähe der Darstellung zu einem der Beispiele, mit denen vor ein paar Monaten die Kreation von unbewegten Bildern mittels Sprachbefehlen illustriert war. Es war ein Elefant, der über einen Regenbogen wandert. Ich vermute, dass die Wahl der kindlichen Themen eine gemeinsame Ursache hat: Wer die maschinengenerierten Bilder wahrnimmt, soll staunen müssen, wie ein Kind. Doch vermutlich liegt der eigentliche Grund für die Themenwahl tiefer. Um zu beweisen, dass hier nicht einfach Weltausschnitte abgebildet werden, müssen Einblicke in ‚unmögliche‘ Fantasiewelten gegeben werden, Welten, in denen die schwersten Vierbeiner über Regenbogen wandern können und in der Kühe und Hunde an Kindergeburtstagen teilnehmen: Surrealismus après la lettre als Beweis für die vielen visuellen Wunder, die uns noch bevorstehen werden? In der Frühgeschichte des Kinos war es der Surrealismus avant la lettre von Méliès, der mit seinen Filmen besonderen Erfolg hatte. Zauberhafte, kindliche Sujets sind offenbar besonders geeignet, die Leistungen von Techniken, die noch in den Kinderschuhen stecken, zu illustrieren.

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5 - Welche Farbe hat die Blaumeise?

2023.03.28


Es überrascht immer wieder, mit welchem Aufwand einzelne, auch nichtkommerzielle Websites geschaffen werden. Meist stößt man zufällig beim Surfen auf eine dieser besonderen Arbeiten. Das Internet muss voll von verborgenen Wunderwerken der Webgraphik und Programmierung sein, wie natürlich auch schon alle großen Bibliotheken Horte von unsichtbaren Meisterwerken der Buchdrucker- und Illustrationskunst waren.

 

Die Website, die ich heute entdeckt habe, ist eine der schönsten, die ich bislang kenne. 1814 und 1821 hatte der schottische Maler Patrick Syme das vom deutschen Mineralogen Abraham Gottlob Werner entwickelte, 1774 publizierte Farbbestimmungssystem in einer überarbeiteten Form publiziert. Der Band „Werner‘s nomenclature of colours“ ist vor allem deshalb berühmt, weil Charles Darwin das Buch auf seiner Forschungsreise zur Beschreibung der von ihm entdeckten natürlichen Objekte verwendet hat.

 

Auf der Website wird nach einer Einführung nicht nur der vollständige Einleitungstext der Auflage von 1821 wiedergegeben. Vollständig wiedergegeben sind auch die von Syme geschaffenen, mit Farbmustern illustrierten Tafeln, bei denen die einzelnen Farbtöne - unter den Überschrift „Blues“ sind es elf verschiedene - als Mischungen von damals gängigen Farbpigmenten beschrieben werden. So ist laut Patrick Symes Angaben das Scotch blue, das man am Hals der Blaumeise, des Blue titmouse, findet, aus Berlinerblau, einem starken Anteil von Samtschwarz, von wenig Grau und einer Spur von Karminrot zusammengesetzt. Solche komplexe Mischrezepturen waren in Malerateliers - etwa für die Wiedergabe des Inkarnats - gebräuchlich. Das Besondere von Symes Überarbeitung von Werners Farbbenennungssystem besteht darin, dass der Maler jeweils neben den von Werner beschriebenen Mineralien exemplarisch auch Tiere und Pflanzen aufführt, die die entsprechende Farbtönung aufweisen, womit das System zusätzlich in der Wirklichkeit verankert wird. In der Website werden nun, wenn man einen der mit einer Laufnummer (1-110) versehenen Farbtöne anklickt, fotografische Bilder der auf der Tafel genannten natürlichen Objekte präsentiert. Heute werden die Farbtöne über ein Zahlentripel des Farbwürfels (RGB-Farbraums) bestimmt, und sie erscheinen in Sekundenbruchteilen als leuchtende Pixelpunkte auf dem Bildschirm der PCs und Smartphones. Die farbige Welt ist - wenn man denn, wie man es gerne tut, von der komplexen, für den Laien nicht mehr einsichtigen Elektronik abstrahiert -, in weiten Bereichen völlig abstrakt geworden und hat dabei jede materielle Basis verloren. Geblieben ist bisweilen - etwa über die irisierende Oberfläche der Plastikhülle des Smartphones - die Evokation des himmlischen Regenbogens mit seiner Spektralfarbigkeit.

 

Hier der Link zu „Werners’s nomenclature of colours“ in der von Nicholas Rougeux, data artist and designer, geschaffenen digitalen Präsentation: www.c82.net/werner/

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4 - Gibt es Farbaufnahmen ohne Farbe?

2023.03.25

 

Es ist wohl kein Zufall, wenn diese Farbaufnahme von Trümmerfrauen, die Werner Bischof Anfang 1946 in Berlin aufgenommen hatte, bis 2023 nicht publiziert worden ist. Mit ihren fein abgestuften Grautönen und dem zarten Akzent bei einem der beiden Kopftücher wirkt sie etwas gar harmlos, dem Gegenstand irgendwie inadäquat. Die Aufnahme gehört zu den Bildern, die derzeit in der Ausstellung Werner Bischof - unseen colour im MASI in Lugano und ab dem 26. 8. in der Fotostiftung in Winterthur gezeigt werden. Zwar waren bereits 1932 mit Kodachrome und 1936 mit Agfacolor Dreischichtfarbfilme auf den Markt gebracht worden, die es auch den Amateuren erlaubten, einen farbigen Eindruck der sichtbaren Welt festzuhalten. Aber die Ergebnisse (Dias und Prints) waren nicht nur wenig farbbeständig, sie waren als Vorlagen für den Farbdruck ungeeignet. Für den Dreifarbendruck mussten mit Hilfe von Farbauszugsfiltern drei formidentische Schwarzweiß-Negative hergestellt werden, die in ihren unterschiedlichen Helldunkel-Werten den beim Druck eingesetzten Farbanteilen - grün, rot, blau - entsprachen. Für Werner Bischof hatte der Verlag Conzett & Huber eine teure amerikanische Devin Tri-Color Kamera angeschafft, da man von Bischofs Reise durch das kriegsversehrte Europa auch farbige Bilder wünschte. Die Kamera erlaubte es, mit Hilfe von integrierten Spiegeln und Filtern, drei Farbanteil-Negative im Format von 9 x 6,5 cm mit einem einzigen Objektiv gleichzeitig zu belichten. Da der Kupfertiefdruck in Farbe teuer war und in den Nachkriegsjahren außer in Kunstbänden fast ausschließlich für die Titelseiten der Illustrierten und für Werbeseiten eingesetzt wurde, kann man davon ausgehen, dass gerade Farbaufnahmen, die einen bildjournalistischen, dokumentarischen Charakter hatten, einem besonders strengen Auswahlprozess unterworfen waren. Der Ausdruck ‚ungesehene Farbe‘ ist, was den Nachlass von Werner Bischof betrifft, in einem radikalen, wörtlichen Sinne zu verstehen. Die mit der Devin-Kamera geschossenen Aufnahmen waren nur potentielle Farbaufnahmen. Sie kamen über das Stadium eines Tripels von Schwarzweiß-Negativen mit einer einzigen Ausnahme nicht hinaus. Auch der Fotograf selbst kannte, wenn er sein Material bei der Redaktion ablieferte und dort besprach, nur die Farben, die er bei der Arbeit vor dem Motiv gesehen und idealerweise im Gedächtnis gespeichert hatte. Die farbigen Positiv-Abzüge, die nun in der Ausstelung Werner Bischof - unseen color häufig im übergroßen Format die Wände schmücken, sind nicht nur späte Rekonstruktionen, sie sind im Grunde fakes, da es sie, als die Aufnahmen entstanden, so nicht gegeben hat.

 

Aber es ist nicht nur der teure und aufwendige Prozess des frühen Farbdrucks, der als Zensurinstanz wirkte. Es gibt weitere Gründe, weshalb Farbaufnahmen im Bereich der professionellen Fotografie lange einen schweren Stand hatten. Das Schwarzweiß war, da die fotografierte Welt - mit wenigen Ausnahmen - seit je fast vollständig unfarbig war, gerade im Bereich der künstlerisch anspruchsvollen Fotografie, positiv konnotiert und trug darüber hinaus den Index der Wahrhaftigkeit. Es überrascht nicht, dass die Farbe erst 1962 mit einer Ausstellung des Fotografen Emil Haas im Museum of Modern Art und dann vor allem 1976 mit der Eggleston-Ausstellung im gleichen Museum zu einem ernstzunehmenden player wurde. Aber es sollte noch lange dauern, bis sich die Farbe im engeren dokumentarischen Bereich durchsetzen konnte. Vor allem die Kriegsfotografie blieb eine schwierige Domäne. Ist der Krieg schwarzweiß? Niemand, der an das vergossene Blut denkt, wird dies behaupten wollen. Doch auch für mich hatten manche der Farbfotografien, die die New York Times zu Beginn des Ukraine-Krieg veröffentlichte, einen falschen Ton. Es waren vor allem die Interieur-Aufnahmen mit einem stummen Kriegsopfer im Vordergrund, die bisweilen auch noch einen Fensterausblick auf die zerstörte Welt zeigten, die mich unangenehm berührten. Sie waren für mich zu bunt und - trotz der sichtbaren Zerstörungen - zu schön. Ich musste unweigerlich an Vermeer denken. Mittlerweile ist dieses ungute Gefühl beim Zeitungslesen auf dem Smartphone verschwunden. Achten jetzt die Fotografinnen und Fotografen bei ihren Aufnahmen, beziehungsweise die Bildredaktionen bei der Auswahl darauf, dass sich kein Pittoresk-Effekt mehr einstellt? Oder habe ich mich daran gewöhnt, dass Gräuel auch in einer buntfarbigen Welt verübt werden können? Oder schaue ich vielleicht ob all der vielen Bilder des Elends gar nicht mehr genau hin? Ich kann es nicht sicher sagen.

 

Von den Aufnahmen in der Bischof-Ausstellung - es gibt neben den Berliner Trümmerfrauen als Neuentdeckung auch eine Aufnahme des zerstörten Reichtags - wurde anscheinend nur eine einzige zu Lebzeiten des Fotografen als Farbdruck realisiert. Es ist die frontale Nahaufnahme des von einer Baby-Mine verunstalteten Gesichts eines holländischen Jungen. Arnold Kübler, der Chefredakteur der von ihm gegründeten Kulturzeitschrift „Du“, hatte den Mut gehabt, diese mit der Devin Tri-Color-Kamera realisierte Aufnahme auf Vorschlag des Fotografen farbig auf den Umschlag der Ausgabe vom Mai 1946 zu setzen. Die Entscheidung hatte bei den bislang vor allem mit Farbaufnahmen von klassischen Kunstwerken verwöhnten Abonnenten einen kollektiven Aufschrei zur Folge. Man wollte einem unschuldigen Opfer des Krieges nicht ins Gesicht blicken müssen.
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3 - Wie komme ich zum Wangenrot?

2023.03.11

 

Bernd Stiegler hat gestern, wie er mir berichtet, auf dem Flohmarkt einen tollen Fund gemacht und mir davon diese Aufnahme geschickt: eine Sammlung von Rezepturen eines Fotografen aus der Zeit, als die Bilder noch eine materielle Natur hatten und nach der Belichtung in komplexen chemischen Prozessen fixiert werden mussten. Es war die Zeit - sie dauerte fast zweihundert Jahre -, als fotografische Bilder noch keine halb-geistige, flüchtige Existenz in der Form von elektronisch gespeicherten und verteilten, dank Elektrizität sichtbar gemachten Pixelmassen hatten. Das von Konrad Kölbl in Augsburg, dem Erfinder der Tintur, signierte Blatt „Farbenrezept (in Tropfen)“, das unter anderem zur Herstellung von „Wangenrot“, „Augenblau“ und „Lippenrot“ diente, ist reinste Poesie.

 

Aber eben, das Bildgeschenk, das ich als Einblick in den Fund über ein soziales Netzwerk zugeschickt bekommen habe, ist - solange nicht gedruckt - selbst eine bewegliche, leicht manipulierbare Pixelmasse, dessen bin ich mir bewusst.

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2 - Weshalb sind Logos der Mode unterworfen?

2023.03.29

 

In der Welt der Zeichen bilden Firmen-Logos eine interessante Sonderklasse mit ganz besonderen Eigenschaften. Man könnte das Logo als einen bildmäßig gestalteten Buchstaben oder eine Buchstabenfolge, allgemeiner als ein individualisiertes Zeichen definieren. Während die Zeichen einer verschriftlichten Sprache, die Buchstaben des Alphabets, bei einem feststehenden formalen Kern eine große Bandbreite von abweichenden Realisierungen erlauben und dabei trotzdem ihre Identität bewahren, sind Logos, auch trade-marks genannt, in ihrer Erscheinung eingefroren. Es sind fixe Zeichen mit einer an sie gebundenen ‚Botschaft‘ und dürfen - da rechtlich geschützt - nicht verändert werden. Form und Sinn fallen bei ihnen zusammen. In dieser Engführung liegt ein Problem. Logos müssen, trotz ihrer durch das Gesetz garantierten Stabilität - in aufwendigen Kampagnen immer wieder neu gestaltet werden, damit sie ihren Wert bewahren. Dieses Phänomen ist erklärungsbedürftig. Weshalb sind Logos der Mode unterworfen? Dies, vermute ich, liegt daran, dass sie als unveränderliche Zeichen ganz allein eine schwere inhaltliche Bürde zu tragen haben: das image einer Firma nämlich, all das, was ein internationales Publikum mit dem Markenzeichen an Werten verbindet. Dieses image kann nicht nur infolge eines objektiven Wertverlust der ausgegebenen Aktien, sondern auch aufgrund moralischer Erwägungen von Seiten der Öffentlichkeit leicht an Wert verlieren oder gar ins Negative kippen. So wird meist angenommen, dass die 2015 erfolgte radikale Neugestaltung des Markenzeichens von Google ihren hauptsächlichen Grund in den damaligen Image-Problemen der Firma hatte. Natürlich sollte das neue Logo weiterhin an das alte Logo - genauer an seine untereinander nur wenig differierenden Vorgängerversionen - erinnern, aber es sollte dank ‚facelifting‘ bei der Öffentlichkeit einen neuen, von den in Frage gestellten Werten unbelasteten, frischen Eindruck machen. Die Botschaft: Wir sind zwar immer noch die gleiche Firma, aber wir haben uns geläutert. Bleibt uns treu!

 

Die Erinnerung an die älteren Versionen des Google-Logos wurde durch den unveränderten Einsatz der vier Grundfarben rot - gelb - grün - blau wachgehalten. Diese gehörten schon immer zur Google-Welt und fanden ihre Anwendung vor ein paar Jahren sogar im Einrichtungsdesign des Zürcher Firmensitzes. Dabei ist es nicht einfach ein lustiger Einfall, wenn die Architekten bei ihrer Visualisierung ein Häufchen Lego-Steine und vier mit ihrer Hilfe realisierte Schiffsmodelle auf die Tische im Vordergrund gestellt haben. Die Verbindung zur Lego-Welt war schon in Googles Kindertagen vorhanden, als die jungen Startups die Gehäuse ihrer Produkte aus Lego-Klötzchen selbst gebastelt haben. An der kindlich bunten Lego-Welt hat sich die Designerin des klassischen Google-Logos, Ruth Kedar, dann auch orientiert. Die von ihr eingesetzten Grundfarben - deren Buntheit verbreitet unbeschwerten kindlichen Optimismus und verweist auf eine ideale, von den Mühen des Alltags getrennte Sonderwelt - wurde beim neuen, am 1. September 2015 eingeführten Logo beibehalten. Die neue Fassung unterscheidet sich von den älteren Fassungen hauptsächlich durch den Einsatz einer jetzt serifenlosen Schrift.

 

An die Neugestaltung des Firmenlogos schloss sich die Neugestaltung der Icons an, mit denen Google seine Apps anzeigt. Auch die Logik dieser Neugestaltung ist aufschlussreich. Es ist eine Logik der massiven Bildpräsenz, eine Art optisches Ellenbogenspiel mit dem Ziel, alle anderen Zeichen, mit denen die Kacheln der Apps auf dem Bildschirm des Smartphones besetzt sind, in die Ecke zu drängen. Da die Google-Icons formal als Gruppe, als eng zusammengehörende Zeichenfamilie daherkommen und die auf weißen Grund gesetzten Grundfarben dabei ihr Erscheinungsbild prägen, gehen sie leicht als Sieger hervor. Anders als im Google-Firmenlogo sind bei den Icons die Grundfarben immer entsprechend der Regenbogensequenz angeordnet und besitzen so eine starke innere Kohärenz. Das Resultat sind Gebilde, die bisweilen wie klassische Farbdiagramme daherkommen. So stehen sich im Dreieck von Google Play und im Windrad von Google Fotos jeweils die beiden Gegenfarbenpaare grün/rot und gelb/blau als starke Kontraste einander gegenüber.

 

Marken, über ihre Logos visualisiert, sind wertvoll. Der Wert der wichtigsten unter ihnen wird jedes Jahr in einem weltweiten Ranking ermittelt. Mit einem angeblichen Wert von 251,75 Milliarden(!) Dollar folgte die Marke Google im Jahre 2022 unmittelbar auf den nur wenig wertvolleren Spitzenreiter Amazon. Doch der Markenwert einer Firma ist fragil. Plötzlich ist ein daran gebundenes Logo - wie es die Fälle von Swissair und Credit Suisse gezeigt haben - nur noch eine leere Hülle. Das individuelle, unverwechselbare Zeichen, zuvor in vielmillionenfachen formidentischen Ausführungen verbreitet, wird für die Müllabfuhr und den Schredder vorbereitet. Nur bei unverbesserlichen Nostalgikern bleibt die Hülle, jetzt freilich nur noch in Franken und Rappen beziffert, begehrt. Das schöne, perfekt geformte Logo erinnert sie an eine Zeit, in der die Welt mitsamt den vom Schriftzug vertretenen Werten noch in Ordnung war, scheinbar.

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1 - Was macht eine gute Ausstellung aus?

2023.02.26

 

Die Reise nach Kopenhagen zur Matisse-Ausstellung „The red studio - Det rode atelier“ hat sich gelohnt. Das von Ann Tempkin vom New Yorker Museum of Modern Art und von Dorthe Aaagesen vom Stockholmer Staatlichen Museum entwickelte Konzept war klar und schlüssig. Im Mittelpunkt stand ein einziges, großes Gemälde, das „Atelier rouge“, eine frühe Summe der persönlichen Form der Malerei, des dekorativen Stils, den Henri Matisse 1911 im Anschluss an die Fauve-Periode entwickelt hatte. Das Gemälde im Format von 130 x 162 cm vereinigt über multiple Bildzitate elf frühere eigene Werke in sich. Den Kuratorinnen war es gelungen, all diese Arbeiten - sechs Gemälde, drei Skulpturen und eine Keramik (mit Ausnahme eines von Matisse später zerstörten, nur noch fotografisch dokumentierten Gemäldes) - zusammenzubringen. So wurde im großen Eingangssaal der Ausstellung in einer Gegenbewegung das, was Matisse in seinem Atelier-Bild in der Form von Bildzitaten synthetisiert hatte, wieder entfaltet.  

 

Weshalb war ‚The red studio‘ eine gute, ja vorbildliche Ausstellung? Ich würde sagen: Sie hat die Besucherinnen und Besucher durch die Art der Präsentation dazu gebracht, vor einzelnen Kunstwerken stehen zu bleiben, sich mit ihnen intensiv auseinanderzusetzen, das Gesehene persönlich zu empfinden und darüber zu reflektieren. Präzise Angaben über den Entstehungszusammenhang sind bei historischen Werken notwendig. Sie wurden in Kopenhagen zusammen mit weiteren Arbeiten von Matisse in angehängten Nebenräumen nachgeliefert. Das Publikum nahm sich Zeit, diese nach der intensiven Auseinandersetzung mit dem Hauptwerk ebenfalls zu verarbeiten. Ich war dann auch nicht erstaunt, dass viele Besucher - ich gehörte zu ihnen - die Ausstellungsräume am Ende nicht geraden Schrittes verlassen haben, sondern einen U-turn machten, um in den Hauptraum mit dem „Atelier rouge“ zurückzukehren. Das Gemälde, Matisse‘ ästhetische Summe, das er seinem frühen Mäzen, Sergei Schtuschkin in St. Petersburg erfolglos angeboten hatte, war jetzt zwar nicht weniger rätselhaft, aber es war reicher geworden.

 

Anschließend benutzte ich die Gelegenheit, um die Altmeistersammlung im Kopenhagener Museum zu besuchen: den von zwei Trauerengeln gestützten toten Christus von Mantegna, ein Werk von einer eigentümlichen Präzision, einer ästhetischen Schärfe, die das Thema zu spiegeln scheint, dazu die Sammlung mit den trompe-l’œil-Gemälden von Cornelius Gijsbrechts, die mich diesmal aber merkwürdig kalt ließen: zerebrale Fleißarbeiten, Bildwitze, die sich schnell verbrauchen. Aber ein anderes Objekt malerischer Fleißarbeit, der Perspektivkasten eines unbekannten Flamen aus dem 17. Jahrhundert, der mit drei Wänden ein bürgerliches Interieur simuliert, hat mich fasziniert. Er führte mich in Gedanken zu Matisse zurück. Ich habe mich gefragt, ob Matisse das „Atelier rouge“ nicht als eine erste Ergänzung zum gleichformatigen „Atelier rose“, das bereits in Schtuschkins Besitz war, gemalt hatte. Schtuschkin hatte Matisse zwischenzeitlich in einem Brief vorgeschlagen, drei Wände eines kleinen Raumes in seinem St. Petersburger Palast mit dekorativen Gemälden aus seiner Hand auszustatten. Man kann davon ausgehen, dass der Maler das gleichformatige „Atelier rouge“, welches das Innere seines neu erbauten Ateliers im Pariser Vorort Issy-les-Moulineaux aus einer anderen Perspektive zeigt als das „Atelier rose“, für Matisse konzeptuell eng zusammen gehören. Eine dritte Ansicht in einem anderen dominanten Farbton und nochmals aus einer anderen Perspektive aufgenommen, hätte des Ensemble ergänzt: rose, rouge, x. Im kleinen dekorativen Raum in St. Petersburg wäre so Matisse‘ Kunst in nuce, als ein in sich abgeschlossener ästhetischer Kosmos, vereinigt gewesen. Drei Gemälde voll von malerischen Zitaten hätten im fernen St. Petersburg im reduzierten Format, in einer Art von begehbarem „Perspektivkasten“, das Pariser Atelier in einem Moment der höchsten kreativen Entfaltung repliziert.